Bildgewaltigkeit sucht Identität  – Eindrücke der CXI_19

Brick meets Brand

Nun schon zum 11. Mal findet die größte Konferenz Europas zum Thema Corporate- und Brand-Identity statt. Venue dieser prestigeträchtigen Veranstaltung war dabei auch dieses Jahr der Bielefelder Lokschuppen, ein Bau aus dem frühen 20. Jahrhundert, welcher mit Backsteinwänden und einem zutiefst industriellen Look lockt.

Veranstaltet wird die CXI von der Fachhochschule Bielefeld, insbesondere der Fakultät Gestaltung. Mit diesem Bildungsträger als Veranstalter ist es daher wenig verwunderlich, dass bei der Anmeldung und tatsächlich auch im Publikum Studenten vorrangig vertreten sind.

Auch in diesem Jahr begaben sich sechs Sprecherpaare und Dreierkonstellationen auf die Bühne, um Agenturen und deren Kunden in diversen Markenprojekten zu repräsentieren. Dabei sollte ein einzigartiges um- und zusammenfassendes Bild beider beteiligter Parteien besagter Projekte entstehen. Schließlich bekommt man sonst nur von einer Seite zu hören.


Photo by Paul Krizsan

FOMO tv | Kurppa Hosk

Der Aufschlag der CXI_19 fand durch die einzigen internationalen Sprecher der Konferenz statt. Die schwedische Designagentur Kurppa Hosk, vertreten durch Thomas Kurppa und der ebenso in Stockholm ansässige Gallerist, Künstler und Tausendsassa, Jonas Kleerup, berichteten vom höchst kreativen und nostalgisch angehauchten Prozess der Identitätsfindung von FOMO tv.

Kleerups Idee einer Videostreaming-Plattform zum Thema FOMO (Fear Of Missing Out) mochte im Ansatz zwar schwer verständlich und abgesehen vom künstlerischen Ansatz von fraglicher Relevanz sein, aber die Intensität und Qualität der Gestaltung ließ nicht zu wünschen übrig. Mit eindrucksvollen Showreels der brand-in-motion, einem an VHS-Kassetten erinnernden Stil und einem flexiblen Logokonzept, welches an die Myriade von Logovarianten der MTV erinnerte, überwältigte Kurppa Hosk das Publikum durch Bildgewalt.

Dafür wendete Kurppa Hosk ihren eigenen, schneeballähnlichen Gestaltungsprozess zur Markenbildung an, bei welchem man sich graduell, aber mit zunehmender Geschwindigkeit und Komplexität einer fertigen Marke nähert. Ein interessanter Prozess, allerdings eher dem Wasserfallmodell denn agilem Design ähnelnd, weswegen man sich fragen musste, ob dieser Ansatz für kommerziellere Projekte aufgrund der zumindest außenseitigen Unflexibilität vielleicht weniger geeignet sei.


Volks­wa­gen | think moto

Wir hatten die Ehre, auch dieses Jahr als Agentur wieder mit einem unserer Kunden auf der Bühne stehen zu dürfen. Zwischen Ende 2017 und Mitte 2018 gingen wir mit Volkswagen neue Wege und in neue Realitäten.

Um die Generation X näher an das Erlebnis von Autohäusern und strahlenden, neuen Autos zu führen, entwickelte Volkswagen eine Reihe an Applikationen für die Virtual Reality und Mixed Reality. Basis der Applikationen war die Möglichkeit verschiedene Automodelle spielerisch und virtuell an die Nutzer zu bringen. Einzig der Geruch neuer Autos fehlte.

Das Involvement von think moto begann mit der Dissonanz vieler Interaktionspattern innerhalb dieser prototypenhaften Anwendungen. Schließlich hatte sich bisher niemand mit der Kohärenz von Interaktionen über verschiedene Realitäten beschäftigt. In der Regel gab es kaum Anwendungen, die sowohl in Virtual Reality als auch in Augmented Reality den Test der Markenkonformität bestehen mussten. Unser Auftrag bestand daher darin, eine einheitliche Pattern Library zu schaffen, um bestehende und zukünftige Extended Reality-Anwendungen auf einer Linie mit anderen digitalen Volkswagen-Produkten zu halten.

Diese Pattern Library entwickelten wir anhand prototypischer Designs mit Google Cardboard sowie unserer, mit einer HTC Vive ausgestatteten, Virtual Reality Workstation. Unsere Arbeit resultierte neben der Pattern Library in einem Showreel, welches grundsätzliche Elemente und Animationen demonstriert.

Mehr Informationen zu diesem Projekt können in unserem Case gefunden werden.


OSRAM Con­ti­nen­tal | KMS TEAM

Wenn zwei Menschen zusammenziehen, verdoppelt sich nicht der Hausrat. Diese Erfahrung hatte auch Nadine Schian, Leitung Communications, Marketing & Brand bei OSRAM Continental gemacht. In einem zähen, dreijährigen Kampf baute sich das Joint Venture von OSRAM und Continental auf Basis einer technologischen Partnerschaft im Bereich Mobility Lighting Solutions auf und stand dabei einer wichtigen Herausforderung gegenüber. Als Ideenkind zweier bodenständiger und prestigeträchtiger Konzerne galt es in der Identitätsfindung sich entweder an den Eltern zu orientieren, oder komplett neue Wege zu gehen.

Diese Frage wurde sich noch vor der eigentlichen Gründung des Joint Ventures gestellt, was für Vera Schnitzlein und die süddeutsche Agentur KMS Team außerdem bedeutete: Wie baut man eine Marke ohne bestehende Firma dahinter? Schließlich war noch gar nichts festgelegt, geschweige denn unterschrieben.

Visuell wurde sich daher grundlegender Elemente beider Marken bedient. Relevant war vor allem bei den Farben eine Farbigkeit zu finden, die allein stehen kann, aber von den Eltern abgeleitet wird.

Vorteil eines derart frühen Beginn der Identitätsfindung war für OSRAM Continental aber vor allem, dass der Konzern nach der offiziellen Gründung am ersten Tag mit etwa 1.500 Mitarbeitern auf allen Kontinenten und einer voll entwickelten, eigenständigen und ausdrucksstarken Identität an den Start gehen konnte. Ein fliegender Start für das junge Joint Venture.


FC Bay­ern Mün­chen | Inter­brand

Wie erzählst du einem absoluten Bayern München-Fan, dass die Lieblingsfarbe seines Clubs jetzt Gelb und Grün sind? Gar nicht. Von der Problematik der Gestaltung einer unglaublich emotionalen Marke wie dem wohl bekanntesten Fußballclub der Welt erzählten Philipp Mokrohs, führender Markenstratege des Clubs und Alexandra Gövert von Interbrand. Gövert und ihr Team hatten 2017 zur Aufgabe, die Identität des FC Bayern München anzufassen und in das 21. Jahrhundert zu führen.

Für eine Marke, deren Kernwerte sich allesamt um Tradition und Herkunft drehen, bedeutet Wandel und Veränderung für das Design Samthandschuhe anzuziehen. Größere Veränderungen wären vehement den Emotionen der Abermillionen Fans zum Opfer gefallen, aber gleichzeitig berichtete Mokrohs von einem Bedarf an Veränderung. Evolution statt Revolution, hieß die Devise.

Das seit Jahrzehnten nicht angefasste Logo beispielsweise benötigte dringend handwerkliche Hilfe und wurde von Alexandra Göverts Team zuerst aufgefrischt. Es folgte die Einführung verschiedener Key Visuals, des Verlaufs im Hintergrunds sowie des Schnitts und Kontrasts von Schriften und Bildern. Letztendlich wurde klar, dass ebenfalls eine eigene Schrift her musste, um den Markenauftritt auch zukünftig konsistent zu gewährleisten. So steht Bayern München nicht nur sicher auf dem Rasen sondern auch im Web (und anderen Touchpoints).


sip­ga­te | g31

Agil, lean und in Sprints zum Erfolg. Eigentlich ein gutes Rezept, oder? Das dachten sich der Internettelefonieanbieter sipgate und die kleine Düsseldorfer Agentur g31 auch, als sie das Rebranding von sipgate anfassten. Bevor sie an diesem Punkt ankamen, hatten die beiden Partner allerdings schon eine Runde gedreht.

Als sipgate ursprünglich zu g31 kam, war die Rede von einer Markenauffrischung — keinem vollständigen Rebranding mit neuer Identität. Ein Projekt, das im klassischen Wasserfallprinzip angegriffen werden sollte. Nachdem sich die Jungs und Mädels von g31 um Mats Kubiak und Paul Schoemaker dann für zwei Monate eingeschlossen und ein Konzept auf diese Anforderung hin ausgearbeitet hatten, war es Zeit zu präsentieren.

Das vorgestellte Konzept schien für Tim Mois und Tobias Ritterbach von sipgate aber nicht ganz stimmig. Stattdessen sollte nun etwas vollkommen Neues her. Dafür setzte man nun auf zweiwöchige Sprints, regen Austausch und Mitarbeiterbefragungen. So wuchs aus dem schalen Körper des Unternehmens mit Dotcom-Look Woche für Woche ein schlanker Bolide in schwarz-weiß mit farbigen Facetten für die vielen unterschiedlichen Produkte des Internettelefonieanbieters.

Die zuvor fast eigenständigen und überhaupt nicht visuell konsistenten Produkte und Submarken wurden nun eingefangen und über Pattern, einheitliche Logos und ein ganzheitliches Identitätssystem zu einem Ganzen fusioniert.


DHL | Strich­punkt

Nachdem DHL vor wenigen Jahren bereits ein zähes und aufwendiges Redesign der Marke vollzogen hatte, stand es nicht zur Debatte, dass das Logo, die Farben oder gar die Key Visuals angefasst werden durften, als Strichpunkt ins Boot geholt wurde, um der gelben Logistikmarke neue Kraft zu verleihen.

Dicke Wälzer an Styleguides, getrennte Onlineportale für Digital- und Printmedien und eine Fülle an verschiedensten Layouts und Touchpoints von Flugzeug-Wrappings bis zum Werbeplakat in der DHL-Filiale und jeweils damit einhergehende Regelwerke hatten den Logistikgiganten verlangsamt und drohten nun unnötiger Ballast für eine agile Zukunft der DHL zu sein.

Strichpunkt erkannte dies ganz richtig und arbeitete daran, die visuellen Komponenten der Marke zu konsolidieren. Ein UI-Toolkit für Developer hilft nun, neue digitale Produkte über verschiedene Geräte konsistent zu halten und verkürzt die Entwicklungszeit enorm. Aus den zwei stark textlastigen und undurchsichtigen Brand Portals wurde eines mit vielen Bildern, Beispielen und Hilfen. Die zuvor aus über einem Dutzend Schriftschnitten bestehende Schriftwahl wurde durch die neue Hausschrift “Delivery” ersetzt.

 

Doch das wohl beeindruckendste Ergebnis von Strichpunkt war die Kreation eines Layoutgenerators, über welchen jeder Mitarbeiter der DHL dank Templates und Richtlinien einfach markenkonforme Digital- und Printpublikationen und -produkte schaffen kann. Bloß die Textfelder ausfüllen, Bilder aus der Onlinebibliothek wählen und schon hat man ein druckfertiges PDF in höchster Qualität und von der Farbwahl bis zu den Abständen markenkonform.

All diese Änderungen nahm Strichpunkt unter dem Konzept der Simplifizierung vor. Es sollte flexible und universelle Prinzipien und Elemente der Gestaltung geben, die sich über alle Touchpoints hinweg anwenden lassen. Und das ist auf jeden Fall gelungen. Gute Arbeit, Strichpunkt!


Reduce and Recycle

Die Präsenz flexibler Identitäten und lebendiger Marken war auf der CXI_19 zu erwarten und enttäuschte nicht. Eine Einfachheit des Reglements, wiederverwendbare Patterns und Visuals, sowie der Bruch mit der Trennung zwischen Digital und Print sind führende Prinzipien der Markenbildung und -entwicklung in der heutigen Zeit und in absehbarer Zukunft.

Die Tage von 200-seitigen Brand Manuals und pixelgenauen Medienrichtlinien sind gezählt. Die Marken von heute können sich anpassen, mitwachsen und überleben. The brand is dead, long live the brand.

Lust auf mehr?

www.thinkmoto.de
Instagram: @think_moto

Unsere Prozesse und Gedanken findet man auch in Branded Interactions — Lebendige Markenerlebnisse für eine neue Zeit von Katja Wenger und Marco Spies. Ab 2020 auch in Englisch erhältlich.

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